Könnte man bestimmte Computerprogramme unabhängig von diesem Irrtum tatsächlich als
"künstliche Intelligenz" bezeichnen, so müßten diese als Immaterialgüter verstanden werden.
Fraglich ist jedoch, nach welchen Kriterien das Vorliegen einer "künstlichen Intelligenz" zu beurteilen
ist[139].
(1) Arbeitsergebnis
Bei unvoreingenommener Betrachtung scheint das nachfolgende "Weihnachtsgedicht" von
einem denkenden und fühlenden Geist geschaffen worden zu sein:
DER SCHNEE IST KALT UND JEDER FRIEDE IST TIEF UND KEIN CHRISTBAUM IST LEISE ODER JEDE KERZE IST WEISS ODER EIN FRIEDE IST KALT ODER NICHT JEDE KERZE IST REIN UND EIN ENGEL IST REIN UND JEDER FRIEDE IST STILL ODER JEDER FRIEDE IST WEISS ODER DAS KIND IST STILL EIN ENGEL IST UEBERALL
Dieser Eindruck täuscht jedoch, denn dieses "Gedicht" wurde nicht von einem Menschen verfaßt, sondern entstand als Ergebnis des Ablaufs eines Programms[140]. Intelligenz war bei Erstellung des Programms erforderlich; der Rechner selbst war beim Lauf des Programm nicht "geistig tätig": Das "Gedicht" entstand aufgrund einer zufälligen Verknüpfung vorgegebener Begriffe, die nach der Regel für den Satzaufbau "(Quantor) (Subjekt) IST (Adjektiv) (Trennzeichen)" zufällig ausgewählt und verbunden wurden[141]. Selbstverständlich stellt dieses "Gedicht" die Positivauslese der Ergebnisse des Programmlaufs dar; es bedarf nicht viel Fantasie, um sich den Unsinn vorzustellen, der bei der nur zufälligen Verknüpfung bestimmter Worte entsteht. Bereits dieses Beispiel zeigt, daß allein das aus der Abarbeitung eines bestimmten Programms resultierende Ergebnis nicht zur Begründung einer "künstlichen Intelligenz" herangezogen werden kann.
(2) Arbeitsprozesse
Die Forschung auf dem Gebiet der "künstlichen Intelligenz" verfolgt zwei unterschiedliche
Ziele: Die Simulation von menschlicher Intelligenz auf dem Computer - simulation approach -
und der Bau von Computern, die Aufgaben erledigen können, zu denen der Mensch Intelligenz
einsetzt - engineering approach[142]. Es ist jedoch bereits im Grundsatz umstritten, ob es
überhaupt möglich sein kann, menschliche Intelligenz maschinell nachzubilden. Während eine
Auffassung in Computern lediglich normale Maschinen sieht, deren gesamte Funktionen
lediglich aus dem jeweiligen Programm resultieren, hält es die Gegenmeinung grundsätzlich
für möglich, durch ein organisiertes und hinreichend komplexes System Intelligenz zu bilden:
Wenn die heutigen Computer nicht besonders "intelligent" erscheinen, so liege das zum einen
an technischen Unzulänglichkeiten, denn zwischen Computern und dem menschlichen Gehirn
bestünden hinsichtlich der Komplexität gewaltige Unterschiede, und zum anderen daran, daß
die grundlegenden, beim Denken ablaufenden Vorgänge noch nicht richtig verstanden
würden[143].
Könnte man die menschlichen Denkvorgänge nachbilden, so wäre zu erwägen, ob man diesem
so funktionierenden System in toto einen immateriellen Wert zugestehen müßte. Zwar stellt die
Entwicklung der "Fünften Generation" von Computern infolge der damit verbundenen
Parallelverarbeitung[144] einen Weg in diese Richtung dar, denn auch im menschlichen Gehirn
können mehrere Denkprozesse zu derselben Zeit ablaufen. Auch wenn man Parallelen
zwischen dem Funktionieren des menschlichen Gehirns auf der Neuronenebene, also der
Organisation der Nervenzellen, und den grundlegenden elektronischen Vorgängen in einem
Computer ziehen will, wird doch nicht bestritten, daß es weder heute noch in naher Zukunft
möglich sein wird, eine auch nur im Ansatz intelligente Maschine zu konstruieren[145].
Im Ergebnis führen also auch die Vorgänge beim Ablauf eines Programms weder zum Beweis
noch zur Existenz einer "künstlichen Intelligenz".
(3) Programm
Auch das Computerprogramm selbst stellt unabhängig von der zur Herstellung erforderlichen
Leistung keine "künstliche Intelligenz" dar. Bezeichnend für die Großzügigkeit, mit der
allgemein dieses Attribut verliehen wird, ist z.B. die entsprechende Qualifizierung einer
Steuerelektronik für eine Getriebeautomatik, deren Besonderheit lediglich darin besteht, neben
der Fahrzeuggeschwindigkeit und Motordrehzahl auch den Drosselklappenwinkel
einschließlich Stellgeschwindigkeit sowie die Fahrzeuglängs- und -querbeschleunigung zu
berücksichtigen[146]. Es dürfte offensichtlich sein, daß weder umfangreiche Regelschaltungen
bzw. -programme noch Rechnersteuerungen auch nur entfernt etwas mit "künstlicher
Intelligenz" zu tun haben. Solange Computerprogramme Vorgänge im Inneren eines Rechners
steuern, sind sie nichts anderes als - ggfs. hochkomplizierte - technische Werkzeuge. Hieran
vermag auch die Entwicklung der "Fünften Generation" von Computern nichts ändern, denn
auch diese Rechner erfordern naturgemäß körperliche Programme zur Steuerung. Dies
verkennt hingegen Moritz, wenn er es als möglich erachtet, daß die zu den Rechnern der
"Fünften Generation" erforderlichen Programme eine andere rechtliche Beurteilung erfordern
könnten[147].
(4) Expertensysteme
Ein Teil der "künstlichen Intelligenz", nämlich die sogenannten Expertensysteme, könnten eine
abweichende Beurteilung erfordern.
Expertensysteme sind Computerprogramme, die in der Lage sind, Probleme in Bereichen zu
lösen, für deren Lösung menschliche Erfahrung - Expertise - erforderlich ist. Auch hier darf der
Begriff "Problemlösung" nicht in dem Sinne verstanden werden, wie er im Zusammenhang mit
menschlicher Denktätigkeit verstanden wird. Zwar simuliert ein Expertensystem, anschaulich
formuliert, einen Experten für ein bestimmtes Wissensgebiet; dies geschieht jedoch lediglich
durch maschinelle Anwendung vorgegebener Verknüpfungsstrategien auf ebenfalls
vorgegebenes Wissen. Dies beschreibt zugleich die wesentlichen Teile eines solchen
Expertensystems, nämlich die Inferenzmaschine, auch Shell genannt, und die Wissensbasis,
auch als Datenbasis bezeichnet[148].
Hinsichtlich des eigentlichen Programms, nämlich der Shell, gelten die erfolgten
Ausführungen: Es handelt sich um ein Computerprogramm, welches die internen Abläufe eines
Computers steuert. Es besteht kein Unterschied zu anderen Computerprogrammen[149]; die
Shell ist daher körperlich.
Ob mit Hoeren auf eine Differenzierung zwischen Shell und Datenbasis verzichtet und das
gesamte Expertensystem hinsichtlich des enthaltenen Know-how mit komplexen
Industrieanlagen verglichen und als Sache angesehen werden kann[150], ist jedoch zweifelhaft.
Einerseits muß zwar auch die Datenbasis körperlich vorliegen, da sie ansonsten im
Expertensystem nicht vorhanden ist, andererseits dient sie nicht unmittelbar der Steuerung des
Rechners. Man könnte die Datenbasis mit anderen, für die menschliche Denktätigkeit
bestimmten Daten vergleichen, die lediglich wegen der vorteilhafteren Zugriffsmöglichkeit
maschinenlesbar verkörpert sind und insofern nicht anders behandelt werden dürfen, als von
Menschen unmittelbar erfaßbare Daten: Auch ein herkömmliches Datenbankprogramm erfüllt
letztlich seine Funktion nur dann, wenn die Datenbank selbst vorhanden ist. Da es weiterhin
rechtlich nicht erheblich sein darf, ob Wissen und Informationen, also allgemein Daten, in
herkömmlicher gedruckter Form oder maschinenlesbar durch Einsatz entsprechender
Programme dem Menschen zugänglich gemacht werden[151], müssen maschinenlesbare
Datensammlungen wie Druckwerke[152] und ebenso wie diese bei Vorliegen der
entsprechenden Voraussetzungen auch als Know-how behandelt werden.
Dieses Ergebnis hat jedoch keine Auswirkungen auf den Gegenstand dieser Untersuchung,
nämlich den Sachcharakter von Computerprogrammen; diese sind gleich welchen
Verwendungszweckes körperliche Gegenstände.
ee) Ergebnis
Als Ergebnis ist somit festzuhalten, daß Computerprogramme körperlich sind und die
Bedeutung der Verkörperung nicht hinter einem immateriellen Wert zurücktritt.
Computerprogramme unterscheiden sich also in dieser Hinsicht nicht von irgendeinem anderen
technischen Erzeugnis[153]. Wenn die h.M. demgegenüber meint, Software sei ein geistiges
Gut, das zur Ermöglichung der Nutzung einer Verkörperung bedürfe ohne hierdurch zu einer
Sache zu werden[154], so trennt sie nicht streng genug zwischen Konstruktionsidee und -
leistung einerseits und dem körperlichen Arbeitsergebnis andererseits. Die h.M. verkennt
weiterhin, daß Immaterialgüter zur Verwertung und Nutzung gerade keiner Verkörperung
bedürfen, sondern die Erforderlichkeit einer körperlichen Form gerade Merkmal der
körperlichen Gegenstände ist. Da die Körperlichkeit weder von dem Verwendungszweck noch
davon abhängt, ob das Programm speziell für einen Anwender gefertigt wurde oder
Massenware darstellt, ist für eine unterschiedliche Behandlung von Standard-, Individual-,
System- oder Anwenderprogrammen kein Raum.
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135) BFH III R 49/83 v.5.2.88 BStBl II 88,737; zur Geschichte der "Künstlichen Intelligenz"
vgl. Manhart c't 3/91,32ff
136) so Hauter CR 87,580,581; Kindermann ZUM 85,2; Moritz Rdnr.101; vgl. BFH aaO
137) oben bei B.III.2. Rdnr.150ff
138) vgl. König DB 89 Beil.13,26,27; ders. CR 89,372,374f; ders. CR 90,106,107; kritisch
auch v.Hellfeld GRUR 89,471f
139) Nach der bekannten, 1947 veröffentlichten Hypothese des Mathematikers Alan M. Turing
soll eine Maschine dann als intelligent gelten, wenn ein Mensch, der mit der Maschine lediglich
über einen Fernschreiber kommuniziert, nach einem Gespräch beliebigen Inhalts den Eindruck
gewonnen hat, daß ihm ein Mensch geantwortet hat - der sogenannte "Turing-Test". Es existiert
bereits ein Computerprogramm, das einen modifizierten Turing-Test bestanden hat: Das von
dem amerikanischen Psychiater K. M. Kolby entwickelte Programm PARRY simuliert so
erfolgreich einen paranoiden Patienten, daß keiner der mit diesem Programm
kommunizierenden Psychiater bemerkte, "lediglich" einen Computer bzw. ein
Computerprogramm zu diagnostizierten: Manhart c't 3/91,32,34.
140) Programm von R. Gunzenhäuser, Gedicht zitiert nach Knödel Bild der Wissenschaft
67,365,368
141) Quantor: "weder", "ein", "kein"... / Subjekt: "Schnee", "Christbaum", "Engel" ... /
Adjektiv: "still", "tief", "weiß" ... / Trennzeichen: "und", "oder", "." ...; vgl. Knödel aaO
142) Schneider H.-J. 299
143) Selters DOS 9/88,68,69
144) vgl. oben bei A.V.1. Rdnr.58; eine andere Möglichkeit, der Simulation menschlicher
Verhaltens- und Denkweisen näher zu kommen, stellt die Verwendung der Fuzzy-Logik dar,
die mit dem Verzicht auf klare Alternativaussagen wie "richtig" und "falsch" bewußt
Ungenauigkeits- und Zufälligkeitseffekte einbezieht, vgl. v.Altrock c't 3/91,188ff; Weigele
FAZ 68/90,N1
145) vgl. Selters aaO S.69f; skeptisch daher auch Junker Rdnr.45; abwegig hingegen Heussen,
der "in naher Zukunft ... sehr handfeste Interaktionen zwischen Anwender und Software"
erwartet, wobei "der Computer ... den Bediener zum Mittanzen zwingen" werde: Heussen
GRUR 87,779,781
146) Spira FAZ 265/89,T6. Ein anderes Beispiel ist ein Fahrstuhl (Aufzug), dessen "künstliche
Intelligenz" darin besteht, die Fahrströme, also Aufzugsbewegungen, der jeweils letzten zehn
Tage zu speichern und die Bewegungen der einzelnen Aufzüge hiernach zu optimieren: FAZ
129/90,22. Als "intelligent" werden auch Linsen bezeichnet, die lediglich nach einem neuen
Fertigungsverfahren hergestellt sind, bei dem viele Schichten pulverisierten Glases mit
verschiedenen Brechungsindices verschmolzen werden: Behrendt FAZ 199/90,T6. Schließlich
sollen Fenster "intelligent" sein, deren Wärmedurchlässigkeit infolge einer elektrochromen
Beschichtung durch eine elektrische Spannung gesteuert werden kann: Küffner FAZ
223/90,T1. Kritisch zu der großzügigen Verwendung des Attributs "Intelligenz" auch Küffner
FAZ 229/90,T1.
147) Moritz Rdnr.30
148) vgl. Klar mc 8/89,64f; auch Hoeren Rdnr.120 sowie Koch/Schnupp CR 89,776ff
149) so auch Koch/Schnupp aaO S.
150) Hoeren Rdnr.121
151) dies verkennt der BFH, der allein wegen der Maschinenlesbarkeit der Daten ein
immaterielles Wirtschaftsgut annehmen will: BFH III R 38/84 v.2.9.88 BStBl.II 89,160f;
hiergegen König DB 89 Beil.13,26,28f; ders. CR 90,106,109f
152) vgl König aaO
153) Hier irrt auch der BGH in seiner ansonsten die Sacheigenschaft von
Computerprogrammen bejahenden Entscheidung, wenn er in Erwägung zieht, daß die
Gewährleistung für Programmfehler idR den immateriellen Teil der Leistung beträfe, denn der
Fehler des "immateriellen" Teils wird bei anderen Produkten als Konstruktionsfehler
bezeichnet, ohne daß hieraus die Unkörperlichkeit dieser Produkte abgeleitet werden würde.
Interessanterweise begründet der BGH mit dem Hinweis auf eine Ähnlichkeit zu
Konstruktionsfehlern die Nichtvergleichbarkeit von Programmen mit Erfindungen: BGH VIII
314/86 v.4.11.87 NJW 88,406,408.
154) vgl. die Nachweise oben bei I.2.a) Rdnr.258 in FN17
Das Buch ist mittlerweile bis auf wenige Restexemplare vergriffen und nicht mehr über den Buchhandel erhältlich. Diese Restexemplare können beim Autor bestellt werden.